oder: Was passiert, wenn keiner mehr berichten kann?
Heute jährt sich die Befreiung des Konzentrationslager-Komplexes Auschwitz und Auschwitz-Birkenau zum 70. Mal. Joachim Gauck sagte in seiner Rede vor dem Bundestag, dass es “keine Deutsche Identität ohne Auschwitz” gäbe. Er sagte dies ohne Wertung, er wies niemandem Schuld zu und machte niemanden zum Sündenbock.
Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus
im Deutschen Bundestag am 27.01.2015.
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Das ist jedoch, was scheinbar viele Menschen fühlen. Auf der Facebook-Seite von Spiegel Online tummeln sich einerseits die, welche die “Erbschuld” ablegen wollen und andererseits die, welche den Holocaust relativieren oder ihn mit der Situation in den palästinensischen Autonomiegebieten gleichsetzen. Die junge Generation in Deutschland verliert mehr und mehr den Bezug. Sie fühlt sich unrechtmäßig einer Tat beschuldigt, begangen von Großeltern die manche gar nicht mehr kennenlernten. Dieses Jahr werden zur Gedenkveranstaltung in Auschwitz 300 ehemalige Gefangene erwartet. Vor 10 Jahren waren es noch 1700.
Schon jetzt zeichnet sich ab, dass in 10 Jahren wahrscheinlich keine Zeitzeugen mehr am Leben sein werden. Niemand wird mehr in der Lage sein jungen Menschen zu erklären wie es war. Niemand kann dann noch als lebendige Warnung an Schulen berichten. In der Geschichtsforschung hat jedes historische Ereignis eine “Haltbarkeitszeit” von 3 Generationen bzw. 90 Jahren. Man sagt, dass dann aufgrund des Fehlens eines direkten Bezugs Geschehnisse in der Geschichte ohne persönlichen Bezug gesehen werden können. Man kann das heute schon mit dem ersten Weltkrieg beobachten. Keiner spricht heute noch vom “Erbfeind” und keiner schwört Rache aufgrund von Ur-Großeltern welche für Länder starben, die einige Schüler heute gar nicht mehr kennen.
Aber was steht am Ende dieser Entwicklung? Laufen wir Gefahr, dass sich ein Genozid in Deutschland wiederholt? Niemand will die “Schuld” für eine Tat tragen, die er nicht selbst begangen hat. Ich jedoch denke, dass es zu einfach ist die Verantwortung von sich zu weisen. Ich sehe es als meine Pflicht als Deutscher diese Geschehnisse aufzuarbeiten, um zu verhindern, dass vergessen wird und um zu vermeiden, dass sich Ähnliches wiederholt.
Was ich mich zum Abschluss dieses Textes frage ist, in wie weit das Internet dem Vergessen vielleicht ein Schnippchen schlagen kann. Bisher ging immer auch ein großer Teil der Informationen mit der Zeit verloren. In unserer digitalen Welt sehen wir uns mit einer rauen Menge an Information konfrontiert. Diese Informationen reichen von Zeitzeugengesprächen bis zu Lageplänen von Konzentrationslagern, Dokumenten und Fotos. Wird diese Flut an Information dafür sorgen, dass das Wissen um den Holocaust noch länger erhalten bleibt, selbst wenn keine Zeitzeugen mehr leben? Oder wird die viele Information dazu führen, dass sich bequeme Halbwahrheiten durchsetzen und sich jeder seine eigene Geschichte zurechtbiegt?
Es ist an uns Jungen, die zwischen den Generationen stehen, als letzte die noch Zeitzeugen trafen und als Mütter und Väter derer, die keine mehr treffen werden, diese Informationen in einen Kontext zu stellen, welcher die nächsten Generationen davor warnt, was passieren kann: Selbst in unserer zivilisierten Welt kann der absolute Wahnsinn zur Normalität werden.
Links:
> KZ Auschwitz-Birkenau (via Wikipedia)
> Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus (via Wikipedia)
> Reden zur Gedenkveranstaltung im Deutschen Bundestag vom 27.01.2015
Fotos: Archiv, Redaktion
Autor: Johannes Braun